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Forschungsscheinwerfer-Interviews
MINT-Bildung der Zukunft
Forschungs-Spotlight-Interviews
Prof. Dr. Jochen Kuhn erklärt, wie moderne Bildungstechnologie das Lehren und Lernen von MINT-Fächern erleichtert und wie Eye Tracking die Untersuchung ihrer Auswirkungen ermöglicht.
Prof. Dr. Jochen Kuhn ist Inhaber des Lehrstuhls für Physikdidaktik an der LMU München, Deutschland. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich derzeit auf das Lernen mit multiplen Repräsentationen im MINT-Unterricht und im Physikunterricht durch multimediale Lernumgebungen und Technologien (Smartphones, Tablets, AR/VR, etc.). Dazu gehören die Ausbildung von MINT-Lehrern, das Lernen mit und über künstliche Intelligenz (KI) in Schulen und Universitäten sowie Eye Tracking-basierte Untersuchungen von Lern- und Problemlösungsprozessen.
Was ist die übergreifende Vision Ihrer Forschung?
Die Physik wird auch heute noch von vielen Schülern als künstlich und wenig alltagsrelevant empfunden. Die Inhalte gelten als "trocken" und abstrakt, viele Zusammenhänge und Prozesse sind rein theoretisch und unsichtbar.
Wir entwickeln und erforschen Ansätze, um diese Spannungen zwischen Abstraktem und Phänomenologischem sowie Alltäglichem und Fachspezifischem durch den Einsatz von multimedialen Lernumgebungen zu überbrücken. Durch den Einsatz multimedialer Visualisierungen, so genannter multipler Außendarstellungen, lernen die Studierenden mit und über kognitive Werkzeuge, die sie auch im Alltag benötigen (z.B. Interpretationen von Diagrammen und Grafiken), um diese Brücken selbst bauen zu können. Zu diesem Zweck setzen wir auch moderne Technologien in Lernumgebungen ein, um die Ausbildung der Schüler (und Lehrer) mit und über solche Medien zu verbessern. Der Grund dafür ist, dass wir davon ausgehen können, dass moderne Technologien in Zukunft in unserem täglichen Leben zum Einsatz kommen werden.
Natürlich wollen wir herausfinden, wie und mit welchen Darstellungen Schüler erfolgreich Physik lernen, Experimente planen oder physikalische Probleme lösen. Wir interessieren uns also nicht nur für das Ergebnis des Lernens oder Problemlösens, sondern auch für den Prozess selbst, weil wir dadurch besser verstehen können, wie wir die Schülerinnen und Schüler beim erfolgreichen Lernen unterstützen, fördern oder herausfordern können.
Diese Lernunterstützung muss individualisiert und personalisiert sein, so dass verschiedene Schüler denselben Lerninhalt durch verschiedene Arten von Darstellungen, mit verschiedenen Strategien und auf unterschiedliche Weise nutzen können. Daher ist die Vorhersage des Lernerfolgs durch maschinelle Lerntechniken auch ein wesentlicher Aspekt unserer Forschung mit Repräsentationen und hochmodernen Lerntechnologien.
Was hat Sie dazu inspiriert, sich auf diese Reise zu begeben, und was motiviert Sie zum Weitermachen?
Es gibt viele Möglichkeiten, einen guten Physikunterricht zu gestalten. Das Lernen mit multiplen Darstellungen bietet jedoch durch den Einsatz von Multimedia und innovativen Lerntechnologien umfassende, statische und dynamische Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten werden weiter zunehmen - für Bildung und Forschung - insbesondere im Zuge der Digitalisierung.
Darüber hinaus kann die heutige und kommende Generation durch diese Art der Entwicklung und Erforschung innovativer Lerntechnologien mit inhaltsbezogenen Konzepten auch gesellschaftlich relevante Kompetenzen wie Datenkompetenz oder KI-Kompetenz erwerben und damit die Gesellschaft selbst verändern.
Die vielfältigen Möglichkeiten und die Bedeutung für die soziale Entwicklung waren also der Grund für die Wahl des Lernens mit multiplen Darstellungen unter Verwendung innovativer, hochmoderner Lerntechnologien.
Was würden Sie als wichtigste Erkenntnis Ihrer bisherigen Arbeit hervorheben?
Es gibt nicht das eine wichtige Ergebnis, sondern die Erkenntnis, dass Bildung aufgrund der hohen Dynamik der Digitalisierung Gefahr läuft, in einigen Bereichen hinter den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Anforderungen zurückzubleiben. Das bedeutet, dass Bildung die Chance erhalten muss, mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten.
Wenn man bedenkt, dass es vor allem in Deutschland mehr als ein Jahrzehnt gedauert hat, bis ein Alltagsmedium wie das Tablet mehr oder weniger systematisch Einzug in die Klassenzimmer gehalten hat, brauchen wir neue Möglichkeiten für zukünftige Entwicklungen.
Gerade in der Lehrforschung müssen wir uns verstärkt darum bemühen, frühzeitig zu antizipieren und zu untersuchen, welche nächsten Alltagstechnologien eine ähnliche Wirkung wie Smartphones und Tablets haben könnten. Dann sollten mit ihnen valide und praktikable Lernkonzepte entwickelt und erforscht werden, damit wir bis zur Einführung der nächsten Generation von Lerntechnologien bereits über empirisch erprobte erfolgreiche Konzepte für den Unterricht verfügen und nicht erst dann mit deren Entwicklung beginnen müssen.
Und die Politik muss Rahmenbedingungen und Programme schaffen, die solche Spitzenentwicklungen und deren Erforschung in enger Zusammenarbeit mit den Schulen in den Klassenzimmern ermöglichen.
Einerseits ist es wichtig, alle Institutionen, die sich mit Bildung und Forschung beschäftigen, in einen solchen Prozess einzubinden. Andererseits müssen auch die Lehrkräfte geschult werden, damit sie neue Ansätze und Technologien sinnvoll und zielgerichtet in ihrem Unterricht einsetzen können.
Inwiefern hat der Einsatz von Eye Tracking in Ihren Experimenten Ihrer Arbeit genützt?
Wir gehen davon aus, dass neben Head-Mounted-Displays (HMDs) für Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) unter anderem Eye Tracking-basierte Systeme Teil dieser Bildungstechnologien der nächsten Generation (EDTech) sein werden oder in diese implementiert werden.
Beim Lernen, Problemlösen oder Experimentieren mit mehreren Darstellungen setzen wir beispielsweise Eye Tracking-Systeme unterschiedlicher Art ein (stationär, mobil, integriert in VR/AR HMD), um die visuellen Strategien der Lernenden zu untersuchen und zwischen erfolgreichen und erfolglosen Lernstrategien zu unterscheiden.
Darüber hinaus können wir Blickdaten nutzen, um KI-Algorithmen zu trainieren, die vorhersagen, ob ein Problem erfolgreich gelöst wird oder nicht, indem sie visuelle Strategien der Lernenden bereits während des Lernprozesses nutzen. So können wir personalisierte Unterstützung anbieten, bevor der Lernende eine falsche Strategie oder Lösung wählt - und das ohne zusätzliche Beurteilungen, nur auf der Grundlage der visuellen Strategie und vollständig angepasst.
Auch hier ist es wichtig, die Lehrkräfte für die Verwendung solcher blickbasierten Systeme zu schulen und weiterzubilden.
Was würden Sie aus Ihrer heutigen Sicht und aufgrund Ihrer umfangreichen Erfahrung mit Eye Tracking denjenigen raten, die erwägen, es in ihre Forschung einzubeziehen?
Zunächst sollte man sich umfassend überlegen, welche Rolle Eye Tracking-Analysen in der eigenen Forschung spielen sollen.
Wenn Eye Tracking nicht als primäre Forschungsmethode geplant ist, würde ich dazu raten, die damit verbundenen Fragen eher in Zusammenarbeit mit erfahrenen Forschungspartnern zu untersuchen, um Erfahrungen zu sammeln, anstatt in Geräte zu investieren, deren Nutzen unklar ist.
Sollen die Eye Tracking-Methoden jedoch als Standardrepertoire der Forschungsgruppe etabliert werden, schlage ich vor, von Anfang an ausreichend materielle und personelle Ressourcen ausschließlich für diesen Forschungszweig zu investieren.
Verwandte Informationen
Hier finden Sie eine Auswahl aktueller Veröffentlichungen, in denen über die Arbeit mit der Eye Tracking-Technologie berichtet wird:
Becker, S., Küchemann, S., Klein, P., Lichtenberger, A. & Kuhn, J. (2022). Blickmuster verbessern die Antwortvorhersage: More than correct or incorrect . Physical Review Physics Lehrforschung, 18(020107) .
Dzsotjan, D., Ludwig-Petsch, K., Mukhametov, S., Ishimaru, S., Küchemann, S., & Kuhn, J. (2021). The Predictive Power of Eye Tracking Data in an Interactive AR Learning Environment . Adjunct Proceedings of the 2021 ACM International Joint Conference on Pervasive and Ubiquitous Computing and Proceedings of the 2021 ACM International Symposium on Wearable Computers, September 2021, 467-471.
Klein, P., Becker, S., Küchemann, S., & Kuhn, J. (2021). Test zum Verständnis von Graphen in der Kinematik: Item objectives confirmed by clustering eye movement transitions . Physical Review Physics Lehrforschung , 17 (1), 013102.
Kumari. N., Ruf, V., Mukhametov, S., Schmidt, A., Kuhn, J., & Küchemann, S. (2021). Mobile Eye Tracking Datenanalyse mittels Objekterkennung über YOLOv4 . Sensors, 21 (22), 7668. MDPI AG.
Weitere Informationen über das Labor von Prof. Dr. Kuhn finden Sie auf seiner Webseite .
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In dieser Interviewserie erörtern angesehene Forscher, wie sie Eye Tracking in einer breiten Palette von Anwendungen eingesetzt haben.
Vorbereitet von
Dr. Mirjana Sekicki
Zeit lesen
5 min
6. Dezember 2022
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Interviewt von
Ich arbeite eng mit wissenschaftlichen Forschern zusammen, die Eye Tracking für ihre Arbeit nutzen. Meine Aufgabe ist es, eine immer stärkere Verbindung zwischen den Welten der Wissenschaft und der Technologie zu schaffen, um unser kollektives Wissen und unser Wohlergehen zu fördern.
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